Die Medizinethik blickt auf eine mehr als 40-jährige Diskussion zur Patientenautonomie und das damit verbundene Recht auf eine adäquate
und ausführliche Information der Patientinnen und Patienten über alle gesundheitlichen Belange zurück. Vor diesem Hintergrund
erscheint es zunächst paradox, dass seit einigen Jahren in der nationalen und internationalen ethischen Debatte auch ein Recht auf Nichtwissen
postuliert wird. In der Praxis der Forschungsethik - z.B. der Beratung von Forschungsvorhaben in Ethikkommissionen - wird ein solches Recht auf
Nichtwissen regelmäßig von Klinikern und Forschern in Frage gestellt, da sie es für eine ethische Verpflichtung gegenüber
dem Patienten halten, ihm alle wichtigen Informationen mitzuteilen - eine Verpflichtung, die ihrer Ansicht nach auch vom Patienten selbst nicht
eingeschränkt werden sollte. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass Reichweite, Konzeption und praktische Relevanz des Rechts auf Nichtwissen
aus der Perspektive der Medizinethik zum jetzigen Zeitpunkt noch als weitgehend ungeklärt gelten müssen.
Die Untersuchung des Rechts auf Nichtwissen muss auch die Frage nach der Beschaffenheit verschiedener medizinischer Wissensformen berücksichtigen. Inwiefern ist medizinisch-diagnostisches Wissen eindeutig und führt zu genau beschreibbaren therapeutischen Konsequenzen? Worin bestehen Ambivalenzen medizinischen Wissens und wie ist mit probabilistischen Angaben umzugehen? Welche Konsequenzen und Handlungsanweisungen für Arzt und Patient sind konkret mit z.B. Ergebnissen genetischer Diagnostik verbunden? Als Forschungshypothese kann formuliert werden, dass das Recht auf Nichtwissen in solchen medizinischen Bereichen relevant wird, in denen aus Perspektive der Betroffenen und / oder der Heilkunde diagnostische Ergebnisse keinen eindeutig zu definierenden Wert oder Nutzen besitzen. Denn würde dieser eindeutige Wert oder Nutzen bestehen, würde daraus im Normalfall die Information des Patienten folgen.
Im medizinethischen Projektteil sollen die sich daraus ergebenden Probleme anhand der folgenden vier Leitfragen analysiert und geklärt werden:
• Kann ein Recht auf Nichtwissen ethisch aus dem Prinzip der Selbstbestimmung gerechtfertigt werden und handelt es sich dabei um ein absolutes oder nur ein relatives Recht der Patienten? (Während ein absolutes Recht unter allen Umständen Gültigkeit besitzt, besitzt ein relatives Recht nur eine begrenzte Reichweite und hat nur in bestimmten Bereichen Relevanz.)
• Warum wird ein solches Recht auf Nichtwissen nur in der Medizin und dabei insbesondere in der Genetik postuliert, während es für alle anderen Lebensbereiche irrelevant zu sein scheint? Inwiefern sind damit besondere Formen diagnostischer Ergebnisse und medizinischen Wissens verbunden?
• Widerspricht ein solches Recht anderen ethischen Verpflichtungen wie z.B. der Informationspflicht der Ärztinnen und Ärzte oder Auskunftspflichten gegenüber von genetischen Diagnosen möglicher Weise ebenfalls betroffener Angehöriger?
• Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem bisherigen ethischen und rechtlichen Diskussionsstand und neuen Ansätzen der genetischen Forschung für die Praxis?
Die ethischen Leitfragen beziehen sich also auf die Begründung (Frage 1), die Reichweite (Frage 2), die Konsistenz (Frage 3), sowie die praktischen Implikationen und Konsequenzen eines Rechts auf Nichtwissen (Frage 4).
In der ersten Projektphase sollen Publikationen sowie nationale und internationale Dokumente der Medizinethik zum Recht auf Nichtwissen recherchiert und erfasst werden. Die Ergebnisse werden in einem Sachstandsbericht zusammengefasst und müssen mit allen Projektpartnern hinsichtlich ihrer Relevanz und Übertragbarkeit auf die deutsche Situation sowie für die praktische Anwendbarkeit geprüft werden. Weiterhin wird mit dem genetischen und dem psychiatrischen Projektpartner in der Konzeption der geplanten Begleitstudie zusammengearbeitet.
In der zweiten Projektphase sind die wesentlichen Bereiche der ethischen Diskussion anhand der oben aufgeführten Leitfragen zu untersuchen. Weiterhin soll in dieser Projektphase für die Begleitstudien der genetischen und psychiatrischen Projektpartner eine Beratung aus ethischer Perspektive zur Verfügung gestellt werden.
In der dritten Projektphase werden die bisherigen Projektergebnisse zusammengefasst und publiziert. Dabei wird im medizinethischen Projektteil insbesondere die Frage nach den praktischen Implikationen des Rechts auf Nichtwissen eine Rolle spielen. Der medizinethische Projektpartner wird sich jedoch auch direkt an der Auswertung der sozialwissenschaftlichen Begleitstudien beteiligen. In die Entwicklung der Leitlinien für die Praxis wird die medizinethische Perspektive zum Umgang mit dem Recht auf Nichtwissen eingebracht.